Ernte 23

Ikarus & anderes Geflügel

Daidalos aber, indes langwierigen Bannes und Kretas
Müde geworden und heim nach dem Land der Jugend sich sehnend,
War umschlossen vom Meer. "Mag Länder er sperren und Wogen",
Sprach er, "der himmlische Raum ist frei. Dort wollen wir ziehen.
Sei er von allem der Herr, nicht Herr der Lüfte ist Minos.
"Daidalos sprach's und richtend den Geist auf neue Erfindung,
Ändert er schlau die Natur. Denn er stellt, von der kleinsten beginnend,
Federn zusammen in Reih', auf die lange die kürzere folgend,
Dass ungleich man sie wähnte gesprosst. So geht in die Höhe
Mit dem verschiedenen Rohr allmählich die ländliche Flöte.
Unten verband er sie dann mit Wachs, mit Zwirn in der Mitte,
Und die vereinigten bog er in wenig bemerklicher Krümmung,
Wirklichen Fittichen gleich. Nah stand bei dem Werke der KnabeIkaros,
der ohn' Arg, mit welchen Gefahren er spielte,
Bald mit lachendem Mund, wenn wehende Luft sie gehoben,
Federn erhaschte im Flug, bald auch mit dem Daumen geschmeidig
Drehte das gelbliche Wachs und den Vater im Wundergeschäfte
Störte mit kindlichem Spiel. Wie an das Beginnen die letzte
Hand er gelegt, hebt selbst auf den beiden gefertigten Flügeln
Wägend der Künstler den Leib und schwebt im geschlagenen Luftraum.
Weisung erteilt er dem Sohn und spricht: "In der Mitte des Weges,
Ikaros, bleib, dass nicht dir Wasser beschwere die Schwingen
Wenn zu niedrig du gehst, zu hoch, sie versenge das Feuer.
Fliege von beiden entfernt. Auch sieh nicht nach dem Bootes
Oder nach Helike hin und dem drohenden Schwert des Orion.
Halte die Bahn mir nach." Auch nützliche Lehren im Fliegen
Gibt er ihm noch und fügt an die Schultern das neue Gefieder.
Unter dem Tun und der Warnung benetzt sich die Wange des Greises,
Und ihm zittert die Hand. Nun küsst er den Sohn, um ihn niemals
Wieder zu küssen hinfort, und empor von den Schwingen getragen
Fliegt er voran, voll Angst um den anderen, ähnlich dem Vogel,
Der in die Luft aus dem hohen Genist die Jungen hinausführt;
Nachzukommen ermahnt er und lehrt die verderblichen Künste,
Schwingt mit den Flügeln sich selbst und blickt nach den Flügeln des Sohnes.
Mancher, indem er mit schwankendem Rohr nachtrachtet den Fischen,
Oder ein Hirt auf den Stab, ein Pflüger gestützt auf die Sterze,
Sieht sie und staunt und vermeint, die im Aither vermöchten zu schweben,
Müssten Unsterbliche sein. Schon lag die iunonische Samos
Links für das fliegende Paar, das Delos verlassen und Paros,
Rechts war Lebinthos vom Weg und die honigreiche Kalymne:
Als am verwegenen Flug sich der Knabe begann zu ergötzen,
Keck den Führer verließ und von Lust nach dem Himmel verleitet
Höheren Weg einschlug. Weich wird von der Nähe der heißen
Sonne das duftende Wachs, die bindende Fessel der Federn.
Weg war geschmolzen das Wachs: noch schwingt er die nackenden Arme,
Aber des Ruders beraubt kann Luft nicht weiter er fassen,
Und es empfängt den Mund, der schreiend den Namen des Vaters
Nannte, die bläuliche Flut, die drauf nach dem Knaben genannt ward."Ikaros,
Ikaros, komm!", so ruft der bekümmerte Vater,
Nicht mehr Vater anjetzt. "Wo bist du? Wo soll ich dich suchen?
Ikaros!" schallt sein Ruf. Da sieht er im Wasser die Federn
Und er verwünscht die erfundene Kunst und bestattet den Leichnam,
Und vom bestatteten Leib ist der Name verliehen dem Eiland.